Lars, 38, kommt an einem frühen Herbstabend zum ersten Mal in meine Praxis und stellt sich mit leiser Stimme vor. Er wirkt zentriert, ruhig und ein wenig zurückhaltend. Im Laufe des Gesprächs taut er auf und kommt ins Erzählen:
„Wir sind seit achten Jahren glücklich verheiratet, meine Frau und ich. Mein Job läuft gut, unsere beiden Kinder bereichern mein Leben und meine Frau und ich sind ein gutes Team. Wir funktionieren wunderbar im Alltag – wie Zahnräder“, beschreibt er. Nach einer Weile kommen wir auf ihr Sexleben.
„Sex haben wir nicht oft – jedenfalls lange nicht so oft wie früher“, lacht er, „aber das ist
okay. Ich meine… so ist das eben.“
„Wie ist das eben?“, frage ich nach.
Ich weiß schon, was er mir sagen will – aber ich möchte ihm zeigen, dass ein unerfülltes Sexleben lange nicht so selbstverständlich ist wie er glaubt.
„Naja, in längeren Beziehungen und mit Kindern. Da hat man eben weniger Sex.“
„Ah okay“, ich lasse das vorerst so stehen, „und wenn Sie Sex haben… wie ist das dann
so?“
„Naja, der Ablauf ist eigentlich immer ähnlich“, er zögert und ich zeige ihm, dass ich ihm zuhöre, falls er weitersprechen möchte, „Ich finde meine Frau attraktiv, ich spüre meine Erregung auch recht schnell, allerdings kommt irgendwann ein Punkt, an dem diese Erregung nachlässt und sich auch nicht weiter steigern lässt, egal was sie macht.“
Es entsteht eine Pause. Ich merke, dass wir an dem Punkt sind, der Lars belastet.
„Und was passiert dann?“, frage ich schlicht.
„Naja, dann muss ich ja irgendwie versuchen, meine Erregung wieder zu steigern, und…“, ich mache etwas, das ich selten mache – ich unterbreche ihn:
„Moment… Sie sagen, sie „müssen“ versuchen, Ihre Erregung zu steigern? Warum müssen Sie das?“
„Naja, sonst denkt meine Frau, es liegt an ihr.“
Aha. Das war wichtig. Noch gehe ich auf einzelne Punkte aber nicht ein, sondern höre wieder zu.
„Ah okay. Verstehe. Und wie machen Sie das dann? Ihre Erregung wieder steigern.“
„Nun, dann geh ich in eine Fantasie…“
Ich spüre, dass ihm dieser Punkt unangenehm ist und möchte ihn nicht drängen. Die Frage nach dem Inhalt hat noch Zeit.
„Und das funktioniert?“
„Ja.“
„Zuverlässig?“
„Ziemlich, ja.“
„Okay…“, sage ich und möchte ihn aus der Reserve locken, „das ist doch etwas Gutes.“
Lars lacht kurz auf, wirkt aber verunsichert. Er weiß schon, was ich meine – genau wie ich weiß, was er meint. Also helfe ich ihm:
„Was genau empfinden Sie als schwierig daran, dass Ihnen eine Fantasie bei der Erregung hilft? Kopfkino ist etwas sehr verbreitetes und normales.“
„Schon, aber…“, er zögert, „ich habe das Gefühl, ich kann ohne diese Fantasie nicht mehr zum Orgasmus kommen.“
Ist-Zustand
Die sexuelle Erregung ist verknüpft mit einer erotischen Fantasie. Ohne diese Fantasie ist entweder die Erregung bzw. die Erektion oder der Orgasmus nur schwer oder nicht mehr zu erreichen.
Leidensdruck
Der Leidensdruck kann durch unterschiedliche Aspekte entstehen. Zum Beispiel:
- das Gefühl, von dieser Fantasie abhängig zu sein
- das Gefühl, den realen Sex nicht mehr genießen zu können (sondern nur noch im Kopf
zu sein) - das Gefühl, nicht beim Gegenüber sein zu können
- Scham aufgrund der Inhalte der Fantasie
- Sehnsucht nach dem Ausleben der Fantasie, falls diese in der realen Sexualität fehlt
- Partnerschaftskonflikte aufgrund der fehlenden Erektion/ Erregung/ Orgasmus, bspw.
weil der Partner/die Partnerin den Mangel an Erregung auf sich bezieht - uvm.
Gedanken, Ansätze und Fragen
Normalisieren
Erst einmal ist es wichtig zu wissen, dass die Steigerung der sexuellen Erregung durch „Kopfkino“ (also erotische Fantasien, die man vor dem inneren Auge ablaufen lässt) völlig normal ist – gänzlich unabhängig davon, was diese Fantasien darstellen! Es geht also zunächst um das Normalisieren des Vorgangs selbst.
Gewohnheiten ändern
Es kann sein, dass die Fantasie so zur Gewohnheit geworden ist, dass das Gehirn quasi darauf trainiert wurde. Das kann passieren, wenn ich über lange Zeit hinweg immer wieder dieselbe Fantasie sehe (ob in Gedanken, durch Bücher, via Bilder, Pornographie, o.Ä.) und für die Erregung nutze, egal in welchem Kontext – also ob nun in der Paarsexualität oder auch in der Masturbation. Das Gehirn lernt und verknüpft.
- Ist es immer dieselbe Fantasie, die abläuft oder variiert der Inhalt?
- Was passiert, wenn ich die Fantasie ein wenig variiere?
- Geht es inhaltlich immer um dieselben Handlungen, Sequenzen?
Diskrepanz zwischen der realen Sexualität und der Fantasie
Häufig beziehen sich solche Fantasien auf etwas, das in der realen (Paar)Sexualität nicht vorkommt. Hier handelt es sich entweder um konkrete Praktiken oder Stellungen oder aber auch um alternative sexuelle Vorlieben, wie Fetische, Unterwerfungs- oder Dominanzfantasien, Rollenspiele, uvm.
- Wie viel aus meiner Fantasie kommt in meiner realen Sexualität vor?
- Weiß mein Partner/meine Partnerin von meinen Fantasien?
- Kann ich mit meinem Partner/meiner Partnerin über meine Neigungen sprechen?
- Schäme ich mich für meine sexuellen Fantasien?
Der Sex ist so wenig lustvoll, dass die Fantasie nötig wird
Nicht selten ist schlicht der real erlebte Sex entweder sehr/zu routiniert oder schlicht so gestaltet, dass er für (mindestens) einen von beiden kaum oder gar nicht lustvoll ist. Sinnvolle Fragen können hier sein:
- Stimuliert/Berührt mich mein Partner/meine Partnerin auf eine Art, die ich als erregend empfinde?
- Kann ich offen über meine Wünsche und liebsten Berührungsqualitäten sprechen?
- Genieße ich die körperliche Erfahrung, wenn ich Sex habe?
- Spüre ich Lust (statt nur körperliche Erregung)?
Bereits einige Wochen später hatte sich Lars` Leidensdruck beinahe in Luft aufgelöst. In seinen Fantasien stellte er sich vor, gedemütigt zu werden, einer Frau ausgeliefert zu sein, machtlos zu sein – der „Spielball ihrer Lust“, wie er oft sagte. In der Realität hingegen war Lars durchweg der aktive, gestaltende und entscheidende Part in der Sexualität. Im Lauf des Prozesses fanden wir gemeinsam Formulierungen, die sich für ihn stimmig anfühlten und die er zu Hause seiner Partnerin mitteilte. Seine Angst, sie könne diese Seite an ihm ablehnen, war unbegründet: Sie fand die Vorstellung, die Zügel in die Hand zu nehmen, ausgesprochen spannend. Der Prozess, der dann einsetzte (beide experimentierten mit der Dynamik innerhalb der Sexualität) führte dazu, dass Lars einen Teil seiner Fantasie in die Realität holen konnte – was diese Realität umgehend spannender machte als die Fantasie.