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Der „Madonna-Hure-Komplex“

Paul ist 43 Jahre alt und seit einigen Jahren verheiratet, Vater und Familienversorger. Er liebt seine Frau Ina – die Mutter seiner Kinder – sehr. Ja, er verehrt und respektiert sie. Ina ist sehr auf die Kinder fokussiert, Paul hält sie für eine großartige Mutter und die beiden sind im Alltag und als Eltern ein gutes Team. Ihre Paarsexualität ist ein wenig eingeschlafen, durchaus routiniert, es findet wenig Neues statt, wenig Aufregendes und wenig, was Paul sexuell wirklich stimuliert. Er achtet auf Inas Bedürfnisse, streichelt sie, liebkost sie, küsst sie, das Licht ist dabei meist aus oder gedimmt und der Ablauf immer gleich – wenn überhaupt noch Sex stattfindet. Gleichzeitig masturbiert Paul hin und wieder allein im Bad, immer häufiger zu sexuellen Fantasien, in denen der Sex härter ist, rücksichtsloser, geprägt von Überwältigung, rohen Handlungen, teilweise auch Demütigungen oder Gewaltszenarien, Gruppenaktivitäten, Rollenspielen und etlichen anderen Bildern. Im Grunde kommt in seiner Fantasie alles vor, außer die eheliche, die real gelebte Sexualität. Paul hat schon mehrmals vorsichtig nachgefragt, ob Ina nicht Lust hätte, etwas anders auszuprobieren, aber sie lehnte bislang immer ab. Ihr Fokus sei einfach gerade nicht so sehr bei Sex, sondern eher bei der Familie. Paul respektiert das natürlich, gerade weil Ina eine so wunderbare Mutter ist, er sie liebt und seine Familie sein Hafen ist.

Paul trifft irgendwann im Rahmen der Arbeit auf Anna. Anna ist ein paar Jahre jünger als er und eine sexuell aufgeschlossene Single-Frau – die beiden beginnen eine Affäre. Paul steht Anna emotional nicht nahe, ihre Meinung ist ihm weniger wichtig und bei ihr verspürt er keine Hemmungen, keine Scham. Würd Anna ihn für einen Freak halten, wenn er ihr von seinen Fantasien erzählt, wäre das für ihn kein Weltuntergang – bei Ina schon. Beim Sex mit Anna kommen Handlungen vor, die er zu Hause „nicht über sich bringen“ würde. Pauls innere Stimme sagt so etwas wie „Sowas könnte ich mit meiner Frau nicht machen!“ oder „Dafür habe ich zu viel Respekt vor meiner Frau!“. Er würde, nein, er KÖNNTE Ina niemals so hart anpacken, so grob zu ihr sein, sich so gehen lassen. Anna hingegen scheint das zu genießen, sie gibt sich ihm hin, die beiden haben leidenschaftlichen Sex und Paul fühlt sich männlich und stark, wenn er bei ihr ist – und er genießt das.

Worum geht es?

Der „Madonna-Hure-Komplex“, auch bekannt als „Die Hure und die Heilige“ ist ein Prinzip, das viele Menschen zumindest schon einmal gehört, während gleichzeitig nur die wenigsten sich ausführlich damit befasst haben. Es beschreibt im Kern eine (meist unbewusste) Denkweise eines Mannes, der Frauen in zwei Kategorien einteilt und auch entsprechend anders mit ihnen umgeht bzw. ihnen jeweils unterschiedliche Rollen in seinem Leben zuschreibt. Die Begriffe „Heilige und Hure“ werden dabei für gewöhnlich weder im Denken noch im Sprechen tatsächlich verwendet. Sie dienen lediglich der Veranschaulichung des Konzepts, weil sie zu den Denkskripten am besten passten – aber eins nach dem anderen.

Frauen werden in diesem Konzept also einerseits eingeteilt in solche, die als Mutter der Kinder/ Ehefrau/ für eine Partnerschaft infrage kommen (Madonna). Und solche, die sich eher für das Ausleben sexueller Wünsche eignen (Hure). In der Realität äußert sich das zum Beispiel darin, dass ein Mann mit der eigenen, geliebten Frau weniger/ anderen Sex hat, während er mit einem anderen „Frauentyp“ fremdgeht.

Die Allegorien

„Hure“ und „Heilige“ fungieren hier als Allegorien, um gewisse Merkmale zu verdeutlichen: Die „Hure“ steht sinnbildlich für die promiske, sexuell aufgeschlossene Frau für „eine Nacht“, zu der man gemeinhin keine oder nur eine sehr begrenzte emotionale Bindung aufbaut. Die Frau, mit der der Mann also seine tiefen, vielleicht schambehafteten Fantasien auslebt, ist eine, vor der er sich selbst nicht zu schämen braucht. Zudem dient die emotionale Distanz dazu, eine gewisse Gleichgültigkeit in Hinblick auf ihre Meinung von sich selbst aufzubauen.  Würde diese Frau ihn verurteilen, träfe ihn das nicht so tief wie bei der eigenen Partnerin.

Die „Heilige“ währenddessen steht für die „unbefleckte“, „reine“, „unschuldige“ und „tugendhafte“ Frau, die er verehrt, liebt und die vielleicht sogar die Mutter seiner Kinder ist oder sein soll. Ihm ist einerseits wichtig, diese Frau gut zu behandeln, was mit etwaigen gröberen, härteren Sexualpraktiken unvereinbar scheint. Gleichzeitig verlangt es ihn nach ihrem Respekt: Er würde sich vielleicht schämen, würde er eine Seite von sich zeigen, die sie nicht gutheißt.  Er will, dass sie stolz auf ihn ist, ihn als den Vater ihrer Kinder auserwählt und eine hohe Meinung von ihm hat.

Woher kommt das Konzept?

Die Beschreibung des Komplexes geht auf den Psychoanalytiker Sigmund Freud zurück. Freud ging davon aus, dass das männliche Begehren in zwei Richtungen geht: Das sinnliche und das sexuelle. Weil, so Freud, Kastrationsangst und Ödipuskomplex nicht zulassen, beides zu vereinen, teilt der Mann Frauen in zwei Kategorien auf: In jene, die er sexuell begehren und gleichzeitig abwerten kann, und jene, die er lieben und respektieren kann. Eine andere Theorie wäre ein primärer Frauenhass des Mannes, der durch frühe Frustrationen durch die eigene Mutter anfängt, Frauen kategorisch zu hassen und der ihnen infolgedessen mit sadistischen Bedürfnissen begegnet. Also kurz: Misogynie – mal wieder. Aber ist es so einfach?

Wie sieht das in der Realität aus?

In der Realität kann dieses Konzept Grundlage vieler Verhaltensweisen sein: Häufig geht es um Männer, die fremdgehen – einmal, mehrmals oder im Rahmen längerer Affären. Man findet das Prinzip aber auch in poly- oder offenen Beziehungen (also durchaus abgesprochen): Nämlich der Mann, der für unterschiedliche emotionale und sexuelle Bedürfnisse unterschiedliche Partnerinnen hat.

Der klassische Fall ist wohl (der übrigens überwiegend fiktive) Paul, von dem wir bereits gelesen haben. Pauls Schwierigkeit liegt in einem verzerrten Bild, basierend auf einer der Erotik abträglichen Trennung zwischen der tugendhaften mütterlichen Partnerin und der erotisch-sexuellen, leidenschaftlichen Frau. Beide können hier nicht in einer Person vereint werden.

Schon wieder das Patriarchat?

Wenn Männer fremdgehen, wird ihnen heutzutage nicht selten pauschal Misogynie unterstellt und der Grund im Patriarchat gesucht. Tatsächlich finden wir in alten, teils überholten patriarchalen Strukturen durchaus Wegweiser in diese Richtung: Wie zum Beispiel die Tatsache, dass „Reinheit“ und „Unschuld“ früher bei Frauen als tugendhaft galten, ihre Keuschheit also eine Voraussetzung für eine wertvolle Ehe war – nicht zuletzt, weil der Mann dann sicher sein konnte, dass ein potentielles Kind von ihm ist. Solche und viele weitere Mechanismen haben unser Bild von Geschlechtern und Sexualität stark geprägt.

Natürlich ist es wichtig, darüber zu sprechen – aber im Ergebnis einem Mann kategorisch Misogynie zu unterstellen, wäre vielleicht etwas zu kurz gegriffen. Unabhängig davon beinhalten solche Erklärungsansätze für dieses Phänomen oft nur fremdgehende Männer (und auch hier ist es meist etwas komplexer). Was aber ist mit denen, die in offenen Beziehungskonzepten genau diesen Ansatz verfolgen und deren Partnerinnen damit glücklich sind? Sprechen aus diesem Prinzip (der Aufteilung unterschiedlicher Bedürfnisse auf unterschiedliche Menschen) immer Misogynie und die Überreste patriarchalischen Denkens, oder machen wir es uns damit ein wenig zu einfach? 

Spricht man mit Männern, die zu diesen Verhaltensweisen neigen, zeigen sich oft ausgewachsene „Blockaden“. Den Eindruck von Misogynie erhält man bei weitem nicht immer, die Gründe sind komplex und vielfältig. Ein Grund, der oft genannt wird, ist „zu viel Respekt“ vor der eigenen Frau in Kombination mit einem unrealistischen Frauenbild (das ganz und gar nicht misogyn sein muss).

Der Anteil der Frauen

Was in diesem Zusammenhang oft nur wenig oder überhaupt nicht beleuchtet wird, ist 1. der Anteil, den Frauen selbst daran haben könnten, und 2. die Inhalte der sexuellen Fantasien. Natürlich gibt es extreme Fälle, in denen Männer schlicht ein verworrenes Frauenbild haben, das in zwei Kategorien denkt – lassen wir diese Extreme einmal außen vor und bleiben bei Paul und anderen eher komplexen Fällen, die sich nicht gar so leicht auflösen lassen.

Wie wahrscheinlich ist es – zum Beispiel -, dass ein Mann eine Frau erotisiert, die sich selbst nicht erotisiert? Viele Frauen gehen gerade nach der Geburt der Kinder in ihrer Mutterrolle auf. Für sie spielt Sexualität nur noch eine untergeordnete, wenn überhaupt noch eine Rolle spiel. Sie fühlen sich selbst nicht mehr erotisch, findet sich oft nicht attraktiv, leiden unter den Veränderungen ihrer Körper und die verspüren keine oder nur noch wenig intrinsische Lust mehr. Eine Frau als erotisches Wesen zu sehen, die sich selbst nicht als solches sieht, ist im besten Fall frustrierend, weil es wohl zu nichts führen mag (und dahingehend unlogisch), im schlimmsten Fall übergriffig. Wenn Paul sich eine leidenschaftliche Frau im Bett wünscht, bei der er sich sexuell, männlich, kraftvoll, ungehemmt (oder was auch immer) fühlen kann, dann braucht er dafür ein Gegenüber, dass genau das in ihm auslöst, oder anders: das auch so gesehen werden will.

Zudem gibt es viele Männer, die unausgesprochene sexuelle Neigungen haben, vielleicht Fetische, vielleicht Fantasien, für die sie sich schämen und die sie sich nicht trauen, ihrer Partnerin gegenüber zu äußern – oder es versucht haben und auf Abwertung gestoßen sind. Was also, wenn auch hier die Partnerin einen Anteil an seinen Gefühlen hat? Was, wenn sich hier ein System entwickelt hat, das zu diesem Ergebnis führte? Was, wenn doch alles ein wenig komplexer ist und beide ihre Anteile haben?

Die Lösung?

Wenn wir diese inneren Konflikte lösen, die Ursachen beseitigen und das Phänomen verstehen wollen, bringt es nichts, pauschale und kategorische Vorwürfe zu machen – stattdessen sollten wir Verständnis fördern und klarer (auch und gerade über Bedürfnisse) kommunizieren. Höchstwahrscheinlich gibt es die klassischen Fälle, die durchaus mit einem misogynen Frauenbild zu tun haben und darauf basieren. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass es viele andere gibt, bei denen mehr dahinter steckt. Wir sollten den individuellen Fall ansehen, Fragen stellen, den Komplex betrachten und versuchen, das Gesamtbild zu verstehen – mit allen Einflüssen.

Zum Beispiel können folgende Fragen spannend sein:

  • Warum fällt es einem Mann so schwer, seine Frau zu erotisieren?
  • Wann das war einmal anders?
  • Welche sexuellen/ erotischen Bedürfnisse fühlen sich zurzeit für ihn nicht befriedigt an?
  • (Warum) Hat er das Gefühl, mit seiner Frau darüber nicht sprechen zu können?
  • Welches Gefühl hat er bei der anderen Frau, das er nur dort fühlt?
  • Wie sieht er seine Frau – und wie sieht er die andere?
  • Welche Sehnsüchte stecken hinter seinem Verhalten?
  • Wie sexuell (initiativ) ist seine Frau?
  • Gibt sie ihm das authentische Gefühl, sich selbst als erotische Partnerin zu sehen und so gesehen werden zu wollen?
  • uvm.


Hinweis: Die Erzählungen und Geschichten im Blog beziehen sich nicht auf aktuelle Klienten. Die Inhalte sind anonymisiert, in den Details verändert und oftmals kombiniert bzw. konstruiert aus Therapieverläufen unterschiedlicher Klienten. Somit sind Rückschlüsse auf konkrete Personen nicht möglich.


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